«Langsam trennt sich bei den E-Fahrzeugen die Spreu vom Weizen»

Die Redaktion der auto-i-dat ag testet neue Fahrzeuge auf Herz und Nieren. Ein Gremium bespricht anschliessend, mit welchem Wertverlust für diese Fahrzeuge zu rechnen ist. Andrej Boskovic ist Teil der Redaktion, welche die Daten der Neufahrzeuge erfasst, und zusätzlich Teil des Teams, das die Fahrzeugeinstufungen vornimmt, der sogenannten Abteilung «Residual Value». An dessen Einschätzung hängt viel, denn die Restwerte sind ein entscheidender Teil bei Leasinggeschäften. Hier erzählt Andrej Boskovic mehr über diese anspruchsvolle Aufgabe.

Andrej Boskovic, Sie entscheiden über die Restwerte von Fahrzeugen. Das ist wie Sieg oder Niederlage, Krieg oder Frieden. An Ihrer Einschätzung hängt viel Geld. Wie gehen Sie vor, um möglichst genaue Daten zu erhalten?

«Das ist sehr aufwändig. Spielen wir an einem Beispiel durch, wie der Prozess abläuft?»

Gerne.

«Nehmen wir den Ford Mustang Mach-E, den ersten vollelektrischen Ford. Er ist seit Kurzem auf dem Markt. Also haben wir zuerst all seine Daten in unser System eingepflegt. Indem wir die Daten von Hand ins System einpflegen, überprüfen wir sie gleichzeitig und vergleichen sie mit anderen vergleichbaren Modellen. Sofort nachdem der Mach-E lieferbar wurde, wurde uns das Fahrzeug von Ford Schweiz zur Verfügung gestellt. Damals konnten wir uns ein erstes Bild machen und den Mach-E intensiv probefahren.  Ungefähr neun Monate nach der Markteinführung des Ford Mustang Mach-E durften wir die Weiterentwicklung, den Mach-E GT nochmals eine Woche lang testen. So konnten wir die weitere Entwicklung «erfahren» und konnten uns ein noch besseres Bild machen.»

Wie sieht so ein Test aus?

«Das Auto muss im Alltag bestehen. Ich habe ihn nach Hause genommen, an meiner eigenen Ladestation über Nacht geladen, bin mit ihm einkaufen gegangen. Das liefert wertvolle Hinweise: Ist die vom Hersteller angegebene Reichweite realistisch? Wie ist das Fahrerlebnis? Wie sind die Reaktionen auf das Fahrzeug in meinem Umfeld? Dies kann beim Einkaufen, an einer öffentlichen Ladestation oder auch in der Waschstrasse sein. Dies ist in der Regel sehr aufschlussreich, welche Akzeptanz hat das Fahrzeug in der breiten Bevölkerung, zu welchem Preis sie so ein Fahrzeug kaufen würden und ob Elektromobilität ein Thema für sie ist. Aber auch banale Sachen: Wie hochwertig ist das Handschuhfach verarbeitet? Das alles bewerte ich nicht alleine. In dieser Testwoche wird er auf Herz und Nieren von verschiedenen Spezialisten bei uns geprüft.»

Welche Spezialisten?

«Ein Beispiel: René Mitteregger, der Chef des Restwertegremiums ist, ist gelernter Carrosseriespengler. Er beurteilt zum Beispiel, ob die Autoteile fachmännisch und präzise zusammengesetzt wurden.»

Es testeten also verschiedene Fachpersonen den Mach-E. Was geschah im Anschluss?

«Dann sitzt das Restwertegremium zusammen. Wir diskutieren unsere Eindrücke. Aber auch, welche Konkurrenzfahrzeuge auf dem Markt sind oder bald eingeführt werden und wie der Mach-E im Vergleich zu diesen abschneidet. Ungefähr ein Jahr später sehen wir dann, zu welchen Preisen das Fahrzeug tatsächlich verkauft wurde. Es ist also nicht ganz so, dass wir die Restwerte ein für allemal definitiv festlegen. Wir geben in erster Linie eine Prognose ab, mit der Zeit stehen uns dann tatsächliche Transaktionsdaten, Standzeiten, Statistiken und weitere Erkenntnisse aus dem Markt zur Verfügung, mit denen wir dann das Fine-Tuning machen. Schlussendlich bestimmt der Markt den Restwert, durch Angebot und Nachfrage.»

Das heisst, Sie überprüfen Ihre Einschätzungen. Wie zuverlässig sind Ihre Daten?

«In der Regel treffen unsere Prognose ziemlich genau ein, weil wir wirklich pingelig sind und so viele Daten wie möglich sammeln. Aktuell ist es aber schon so, dass unsere Prognosen von vor drei Jahren übertroffen werden. Lieferengpässe, Rohstoffverknappung und weniger verkaufte Neuwagen haben einen positiven Einfluss auf die Preise der Occasionen. Derartige Faktoren können wir jeweils nicht vorhersehen. Da wir nicht davon ausgehen, dass sich die Situation im Markt so schnell entspannen wird, haben wir unsere Restwerte schrittweise nach oben angepasst.»

Wenige Personen verfügen über so viel Wissen über den Schweizer Fahrzeugmarkt wie Sie. Was vermuten Sie, wie sich der Markt in den nächsten Jahren entwickeln wird?

«Elektrifizierung ist das Stichwort. Alles wird mit Vehemenz auf elektrisch oder hybrid getrimmt. Langsam trennt sich bei den E-Fahrzeugen die Spreu vom Weizen. Die besseren Modelle bleiben auf dem Markt, die anderen verschwinden. Die besseren haben einen hohen Marktwert, die schlechteren werden schneller günstig angeboten. E-Autos haben den grossen Vorteil, dass es weniger Ausstattungsoptionen für den Kunden gibt, es wird also einheitlicher. Dank der geringeren Anzahl Bauteile, benötigen E-Autos auch weniger Reparaturen und Service. Bei einem E-Auto geht nie ein Auspuff kaputt. Wir können aber noch nicht abschliessend sagen, ob sie die gleiche Lebensdauer wie treibstoffbetriebene Fahrzeuge haben. Dazu fehlen uns noch ausreichend Daten. Und ohne Daten sagen wir nichts voraus.»


Mehr Informationen zu unseren Restwerteberechnungen finden Sie hier.